Menschen, die uns Kraft kosten, sollen wir meiden, heißt es oft. Doch wie sinnvoll und lebensnah ist diese Regel? Und ich denke mittlerweile: Gar nicht.
Wenn ich bei Google „anstrengende Menschen“ eingebe, schlägt mir die Suchmaschine „meiden“ als Ergänzung vor. Schaue ich mir Zeitungsartikel, Blog-Einträge und Sozial-Media-Posts an oder höre in populäre Emo-Podcasts hinein, überwiegen Positionen mit einer ähnlichen Tendenz: Von „anstrengenden Menschen“, manchmal auch „Energievampire“ oder „schwierige Personen“ genannt, sollten wir uns unbedingt abgrenzen. Mehr noch: Wir sollten uns von ihnen distanzieren, um unsere kostbare Zeit und Energie zu schützen und unsere Ressourcen jenen Leuten zuzuwenden, die uns guttun. Zugegeben, das klingt im ersten Moment einleuchtend. Vermutlich habe ich es sogar selbst schon Freundinnen geraten. Falls ja, würde ich dies hiermit zurücknehmen. Wenn ich nämlich länger darüber nachdenke und mein eigenes Leben sowie meine Beziehungen betrachte, erscheint mir dieser Ansatz realitätsfern, vereinfachend und falsch: Ich halte an meinen schwierigen Freunden mit voller Überzeugung fest. Und zwar aus folgenden Gründen.
5 Gründe, warum ich mit anstrengenden Menschen befreundet bin
Wer sind eigentlich diese „anstrengenden Menschen“?
Zunächst einmal: Wenn ich von „anstrengenden Menschen“ rede, meine ich Menschen, die ich als schwierig erlebe. Weil ich vorwiegend Seiten von ihnen wahrnehme, mit denen ich nicht gut umgehen kann. Das macht sie aber nicht zu per se anstrengenden Personen oder gar Energievampiren. Einerseits gibt es an diesen Leuten stets Eigenschaften, die ich schätze. Momente, in denen ich Gemeinsamkeit erkenne oder ein Vorbild in ihnen sehe. Andererseits: Wer für mich ein schwieriger Mensch ist, muss nicht unbedingt für andere einer sein. Und wenn ich mich gestresst oder erschöpft fühle, empfinde ich ganz andere Dinge, Situationen und Leute als anstrengend, als wenn ich entspannt und ausgeschlafen bin.
Schwierige Menschen helfen mir, mich zu entwickeln und besser kennenzulernen
Im letztgenannten Aspekt steckt mein nächster Grund, anstrengende Menschen nicht konsequent zu meiden: Sie spiegeln mir oft meine eigenen schwierigen Seiten. Und Eigenschaften von mir, mit denen ich nicht besonders geschmeidig umgehe. Zum Beispiel nervt es mich schnell, wenn mir eine Person zu aufdringlich wird oder mehr von mir möchte, als ich anbieten mag. Warum nervt mich das? Weil es mir schwer fällt, klar zu sagen: „Nein, das ist mir zu viel. Wir haben uns gestern gesehen und von mir aus können wir in zwei bis drei Wochen über die nächste Verabredung nachdenken.“ Natürlich kostet es mich Energie, Dinge zu tun, die mir schwerfallen. Aber es bringt mir viel mehr, daraus zu lernen und zu üben, als jene Menschen aus meinem Leben zu verbannen, die mich dazu animieren.
Ich kann nicht allem Anstrengenden ausweichen
Womit ich bei meinem nächsten Argument für anstrengende Freundinnen bin: Durch sie kann ich besser darin werden, mit den unausweichlichen schwierigen Seiten oder Personen in meinem Leben umzugehen. Seit ich beispielsweise damit klarkomme, dass eine meiner Freundinnen meistens alles negativ sieht und sich beschwert, kann ich die Strategie, die ich bei ihr anwende, auch einsetzen, wenn ich Nachrichten schaue oder sogar manche Facebook-Kommentare lese. Der Umgang mit meiner Freundin hat mir beigebracht, mich von Negativität abzugrenzen, mich davon nicht so sehr herunterziehen zu lassen. Und wenn ich einem Freund sagen kann, dass er mich ausreden lassen soll, kann ich vielleicht auch meinen Vorgesetzten eines Tages dazu bringen.
Dynamische, unscharfe Grenzen reichen völlig aus
Gerade bei Freundschaften, aber auch in vielen anderen Beziehungen gilt: Niemand zwingt mich, einen Menschen ständig um mich zu haben oder Zeit mit ihm zu verbringen, wenn ich keine Energie für ihn habe. Bei meinem Freundes- und Bekanntenkreis kann ich einschätzen, wann und wie viel ich wen sehen möchte. Manche Personen tun mir nahezu immer gut, andere nur, wenn ich mich okay fühle und nicht allzu empfindlich bin. Solange das für alle Seiten in Ordnung geht, sehe ich keinen Grund, radikale Grenzen zu ziehen, wo ich gar keine brauche.
Mich haben auch schon Leute als anstrengenden Freund ausgehalten
Was ich an anderen Menschen als anstrengend erlebe, hat oft Hintergründe, die in erster Linie mein Mitgefühl wecken würden, würde ich sie kennen. Psychische Krankheiten oder Persönlichkeitsstörungen können dazu führen, dass sich Personen nicht so verhalten, wie ich es mir wünschen würde. Unsicherheiten oder ungesunde Gewohnheiten mögen Menschen schwierig wirken lassen und ihr Umfeld Energie kosten. Ich hatte und habe in meinem Leben immer wieder Phasen oder wenigstens Tage, während derer ich nicht annähernd der Mensch war oder bin, der ich sein möchte. Einige meiner Freundinnen und Freunde – sowohl schwierige als auch nicht schwierige – haben mich durch mehrere solcher Phasen begleitet, ohne den Kontakt zu mir abzubrechen und unsere Beziehung aufzugeben. Hätten sie sich konsequent von mir distanziert, hätten sowohl sie als auch ich heute weniger wertvolle, tiefe Freundschaften.